Wohnen unterm Kastanienbaum

Die Äste der Kastanie berühren beinahe Fassade und Dach: Die Studentenappartements und der alte Baum bilden ein stimmiges Ensemble. Foto: Hendrik Schwartz

Wer im Grünen wohnen will, muss nicht aufs Land ziehen. Wer unterm Blätterdach schlafen will, muss kein Baumhaus bauen. Und wer ein Ein-Zimmer-Appartement mietet, muss nicht auf gute Architektur verzichten. Diese drei Erkenntnisse konnte gewinnen, wer 2019 die Architektouren in Passau besucht hat. Denn unter den Projekten, die die Bayerische Architektenkammer für die Veranstaltungsreihe ausgewählt hat, waren diesmal die Studentenappartements im Innstadtkellerweg in der Passauer Innstadt: schön, ruhig und naturnah um einen Kastanienbaum gruppiert.

Der etwa 140 Jahre alte Kastanienbaum und die Terrasse sind der gemeinsame Mittelpunkt der acht Appartements. Foto: Hendrik Schwartz

Direkt neben dem bekannten und auffälligen Glaspalast

Seit Herbst 2018 sind die acht Appartements bewohnt – nicht nur von Studenten. Wer dem Trubel der Innenstadt entfliehen möchte, findet in dem eh schon ruhigen Innstadtkellerweg direkt hinter dem Glaspalast der ehemaligen Innstadt-Brauerei einen Rückzugsort. Architekt Norbert Paukner hat mit seinem eingeschossigen Bau auf unaufgeregte Architektur gesetzt. Jedes Appartement misst um die 45 Quadratmeter, hat direkten Zugang zu großzügigen Gemeinschafts-Holzterrasse – und manche Bewohner dürfen sich sogar noch über einen kleinen Balkon mit wunderbarem Ausblick auf die Veste Oberhaus freuen.

Der flache Bau fügt sich harmonisch in die Umgebung ein. Foto: Hendrik Schwartz

Regen wird vom Dach der Appartements an die Baumwurzeln geleitet

Mittelpunkt der Wohnanlage ist eine etwa 140 Jahre alte Kastanie. Sie musste den Appartements nicht weichen, sondern steigert vielmehr deren Wohnqualität. Das ausladende Blätterdach überspannt einige der Wohnungen, die sich rechtwinklig um die Kastanie gruppieren. Entscheidend für das Bauprojekt war aber das Wurzelwerk des alten Baumes – nach Schätzung der Experten dehnt sich dieses genauso weit aus wie die Baumkrone. Es durfte nicht beschädigt werden und sollte in seiner Funktion nicht eingeschränkt werden. Beide Punkte (und noch viele weitere Details) beachtete Architekt Norbert Paukner bei der Planung und Umsetzung. So wurde im Bereich der Wurzeln nicht tief gegraben, vielmehr liegt hier die Terrasse, schwimmend verlegt auf Glasschaum-Schotter. Weil die Kastanie auf ähnliche Weise mit Wasser versorgt werden soll wie vor der Bebauung, läuft das Regenwasser vom Flachdach der Appartements über Regenrohre in den Boden und versickert rund um den Wurzelbereich.

Gut zu erkennen ist auf diesem Bild, dass die Holzfassade aus unterschiedlich breiten und unterschiedlich tiefen Hölzern besteht. Foto: Hendrik Schwartz

3D-Effekt der Holzfassade

Die alte Kastanie ist DER Hingucker des Projekts, aber auch die Fassade ist einen genaueren Blick wert. Denn sie besteht aus Holzleisten, die unterschiedlich breit und unterschiedlich tief sind. Dadurch entsteht ein 3D-Effekt, der die Oberfläche natürlich und lebendig erscheinen lässt. Im Laufe der Zeit wird sich die Holzfassade noch ändern, denn das Holz ist unbehandelt. Im Kontrast zu Holzbauweise und Holzfassade steht die Rückseite der Appartements, für die die dicken Mauern der ehemaligen Bebauung erhalten wurden. Vorne Natur, hinten Geschichte und dazwischen ausgezeichnete Architektur – wer in diesen Appartements wohnt, genießt das Beste aus der Vergangenheit und der Gegenwart.

Übrigens: Das Architekturbüro Paukner war schon mehrmals bei den Architektouren dabei, zum Beispiel mit der Veste Niederhaus und der Heiliggeist-Kirche.

Inspirationen und ein kleines Gruselkabinett

Häuser des Jahres 2014

Das Buch „Häuser des Jahres 2014“ ist im Callwey-Verlag erschienen.

Wenn der Callwey-Verlag zusammen mit dem Deutschen Architektur Museum und mit der Unterstützung des Informationszentrums Beton die „Häuser des Jahres – die besten Einfamilienhäuser“ auszeichnet, dann ist das dazugehörige Buch (ISBN 978-3-7667-2097-9) immer einen genaueren Blick wert. Denn die Projekte sind oft richtig spannend, manchmal zwar etwas zu ausgefallen für meinen Geschmack, aber immer mit wunderschönen Fotos und detaillierten Texten beschrieben, dazu gibt es Grundrisse, Lagepläne und viele Daten zum Projekt. Ein paar Inspirationen kann man sich da immer holen – und manchmal nur den Kopf schütteln. So geschehen diesmal bei einem 920 Quadratmeter großen Haus, das in Stuttgart steht: Die Villa verfügt über einen sehr dunkel gestalteten Jagdraum, drin stehen ein ausgestopfter Bär, ein ausgestopfter Jaguar, Zebrafell am Boden, Elch- und andere Geweihe an der Wand. Das hat für mich was von einem Gruselkabinett. Bei so vielen toten Tieren hilft auch die schönste Architektur nicht mehr.

Was auffällt bei den 50 ausgewählten Projekten: Einige sind monströs groß (1150 Quadratmeter Wohnfläche für zwei Personen bei einem Haus in St. Gallen in der Schweiz), viele sind Wochenend- und Ferienhäuser (und dadurch automatisch nicht die typischen Einfamilienbauten), und viele Gebäude haben entweder eine scheunenartige Anmutung oder – im Gegenteil – sind aus ganz viel Beton. Nicht allerdings das Haus, das den ersten Preis gewonnen hat: Das von Thomas Kröger entworfene Haus, das in Gerswalde in Brandenburg steht, hat eine Fassade aus Wellblech.

Mein Favorit ist der Preisträger nicht, mir gefällt stattdessen das in dem Buch vorgestellte Passivhaus von Architekt Manfred Lux, das mit 140 Quadratmetern für vier Bewohner eine normale Größe hat, aber eine ungewöhnliche Form: Wie ein Kristall an vielen Ecken abgeflacht, wurde bei diesem Gebäude das Verhältnis von Oberfläche zu Volumen optimiert, um Energie zu sparen.

Das ausgezeichnete Projekt in der Passauer Innstadt.

Am Kirchplatz beziehungsweise in der Lederergasse ist in der Passauer Innstadt das ausgezeichnete Projekt der Architekten Hiendl Schineis zu finden. 50 Jahre lang war der Altbau nicht mehr saniert worden, jetzt finden sich drinnen raffinierte Wohnungen. Foto: Karin Polz

Ein zweites interessantes Projekt steht im österreichischen Dornbirn: Ein kleines Haus aus dem Jahr 1961 wurde von Architekt Jochen Specht erweitert, indem um den alten, auf den Rohbau zurückgebauten Kern herum eine neue Hülle aus einer Holzkonstruktion gebaut wurde. Mit vielen Fenstern in den neuen Außenwänden sieht das Haus Hohlen jetzt modern aus. Seine Vergangenheit verleugnet es aber nicht: Frühere Fensteröffnungen dienen jetzt zum Beispiel als Durchgang im Hausinnern.

Auch zwei Projekte aus Niederbayern kommen in dem Buch vor: Die Passauer Architekten Albert Köberl und Alfons Döringer nahmen erfolgreich mit ihrem Projekt „Ein Langhaus im Dorf“ am Wettbewerb teil. Das schmale, lange Häuschen in Fürstenzell mit den rostbraunen Stahlplatten als Fassade, Baujahr 2011, hat schön öfter für Aufsehen gesorgt. Ein anderes Projekt kennt jeder Passauer zumindest von außen: Denn das Projekt „Im Denkmal leben“ von Regina Schineis und Stefan Hiendl steht in der Innstadt direkt neben der Kirche St. Getraud.